Autor: Andrea Walter
Wenn man von einem Fremden berührt wird, dann kann das unangenehm sein. Ich denke hier an den Kuss der Tante, dem man sich eigentlich entziehen will, dem zu langen Händedruck des Chefs oder in Extremfällen an den Toucheurismus oder Frotteurismus, bei denen berührt oder am anderen gerieben wird, ohne dass dies vom Berührten gewünscht oder akzeptiert wird.
Geleitet von positiven Gefühlen, möchte ich euch heute jedoch dazu einladen, euch mit mir den schönen Berührungen zu widmen. Berührungen können allerlei bewirken, sind wortlose Versprechungen. Sie können uns beim Gesundwerden helfen, können uns in Ekstase versetzen, können uns Trost spenden oder uns ein Gefühl von Sicherheit vermitteln. Bevor wir es uns gemeinsam kuschelig machen, möchte ich einleitend kurz zusammenfassen, was bei Berührungen in unserem Körper passiert.
Die Haut ist ein feines und zartes Geflecht mit tausenden von Sinneszellen, die den mechanischen Reiz in elektrische Impulse umsetzen und an das Gehirn melden. Bei angenehmen Berührungen entsteht dadurch Vertrauen. So unromantisch es klingt, aber „Vertrauen“ ist eine hormonelle Angelegenheit, die wir dem Hormon Oxytocin zu verdanken haben. Oxytocin schafft Bindungen und positive Emotionen gegenüber anderen Menschen. Es hemmt das Stresshormon Cortisol und fördert somit Harmonie. Oxytocin betäubt nicht nur das Stresszentrum, sondern auch das Kritikzentrum im Frontalhirn, es ist also das biologische Äquivalent zur rosaroten Brille, durch die wir alle schon einmal geguckt haben.
Wie ich bereits angesprochen habe, sind Berührungen nicht nur förderlich für eine gute Liebesbeziehung. Die physische und psychische Wirkung von Berührungen, sei es nun Massage oder eine Umarmung, ist wissenschaftlich anerkannt. Das sanfte Streicheln der Schulter oder das Halten der Hände eines Kranken, kann ein Klima des Vertrauens schaffen und signalisiert: „Ich nehme dich wahr. Ich bin für dich da.“ Unabhängig vom jeweiligen Krankheitsbild haben Berührungen eine entspannende, stress, schmerz- und angstreduzierende Wirkung und sind demnach sehr förderlich im Heilungsprozess von Patienten, sowie in der Hospizbegleitung, der Palliativbetreuung oder der Geriatrie – ganz frei von unerwünschten Nebenwirkungen!
Doch nun zurück auf unser Kuschelsofa. Stellen wir unser körpereigenes „Haptisches Feedback“ auf „on“ und geben wir uns den Händen unseres Partners hin. Lassen wir ein zärtliches Bild von Berührungen auf unsere Haut malen und zeigen wir ihm was uns wo gut tut, denn eines der wichtigsten Instrumente zur körperlichen Umsetzung der partnerschaftlichen Liebe ist die Berührung des Partners, sei es mit der Hand, den Lippen, der Zunge oder dem gesamten Körper. Die sinnliche Berührung ist purer und ganz besonderer Sex – Ganzkörpersex, wenn man so will! Jede Stelle darf zur erogenen Zone erklärt werden, denn der ganze menschliche Korpus ist eine erogene Zone, ganz besonders unter den Händen des Menschen den wir lieben, und jeder Zentimeter unserer Haut ist empfänglich für erotische Stimulierung. Seid aber nicht nur passiv, sondern geht auch selbst auf Entdeckungsreise. Wie fühlen sich seine Fußsohlen an und wie reagiert er auf ein sanftes Kratzen am Rücken? Lassen wir die Hände über den Körper unseres Partners wandern, lasst ihn uns erschmecken, erriechen und ertasten; kitzeln wir ihn, erforschen wir ihn und finden wir auf dieser spannenden, intimen Reise heraus was ihm gut tut.
Im Unterschied zum reinen Koitus gilt die zärtliche Berührung immer unserem Partner und weniger uns selbst. Diese Art des Berührens ist bidirektional aber man möchte damit in erster Linie der geliebten Person etwas Gutes tun. Sie ist der Nährboden für Innigkeit, Zusammengehörigkeit, Vertrauen und auch für leidenschaftlichen Sex. „Du bist mir wichtig. Ich tue etwas für dich.“ Kreisende Hände und begehrliche Blicke sind dabei mehr als nur ein Vorspiel. Sie sind ein Dauerspiel, das sich an jedem Ort, zu jeder Zeit spielen lässt. Streicheln wir den Partner beim Schlangestehen an der Kinokasse sanft am Rücken oder am Po, zeigen wir ihm wortlos unser Begehren und unsere Verbundenheit. Er wird diese Geste nie mehr missen wollen.
Leider neigen wir in unserer gestressten und übersexualisierten Welt dazu das breite Repertoire der Sexualität auf Penetration und Orgasmus zu reduzieren. Guter Sex, misst sich jedoch nicht nur am erfolgreichen Orgasmus, und beim Streben nach multiplen Orgasmen, weiblicher Dauerejakulation, Potenz bis zum Sterbebett und Kamasutra Stellungen bis zum Oberschenkelhalsbruch, verkommt der Sex häufig zum Leistungssport. Schade drum, denn die Spielfläche der Lust ist in eine „Genussspielfläche“.
Welche Ironie, dass zwar Sex offener praktiziert wird als je zuvor, die Menschen jedoch zunehmend berührungsärmer werden. Mit fortschreitendem Alter oder mit der Dauer einer Beziehung, wird Berührung immer mehr auf den Kontext einer schnellen sexuellen Befriedigung beschränkt, und damit oftmals auch seltener. Dabei ist der Schlüssel zum „guten Sex“ die Berührung – Oxytocin, wir erinnern uns. Endet das einander Berühren, wird auch der Sex langsam enden, und wenn kein Sex mehr stattfindet, endet somit oftmals auch die Berührung für viele Menschen. Um die Verbindung zum Partner aufrecht zu erhalten, ist demnach auch die körperliche Verbindung essentiell, oder wenigstens sehr förderlich.
Für Menschen mit Kuscheldefizit gibt es mittlerweile ein Angebot an „Free Hugs“ oder Kuschelpartys, was aufzeigt, wie sehr wir uns nach körperlicher Nähe sehnen und wie tiefgreifend das Erfahren von Berührungen ist. Aber beim Geschäft mit dem Kuscheln ist es wie mit dem Geschäft mit der käuflichen Liebe. Sie ist oftmals ein Mittel zum Zweck um uns das zu holen was wir missen, aber die Lücke der eigentlichen Sehnsucht bleibt unerfüllt.
In diesem Sinne muss man wohl ganz deutlich sagen, was für ein wertvolles und unbezahlbares Gut die Liebe ist. Darum lohnt es sich immer nach ihr zu suchen, und darum lohnt es sich sie fest-zu-halten, oder sie viel mehr sanft-zu-streicheln.